Über Leben in Bildern

Steffen Mertens ist ein Gesellschaftsbetrachter, der spielerisch agiert, kritisch und ironisch auf Zeitereignisse reagiert. Er spinnt sein Konzept wie ein Netzwerk aus Plan und Zufall. Was jedoch mitunter wie zufällig erscheint, ist Teil eines Gedankengebäudes, das meist nicht mit einem Blick zu überschauen ist. Wer sich aber die Mühe macht, "über die Treppe der eigenen Phantasie auf den Überboden der Tatsachen zu steigen, wo die Botschaften hinter den Botschaften gewöhnlich verstauben." (Steffen Mertens), dem eröffnen sich weitaus vielschichtigere Aussagen, die erkennen lassen, dass er über das bloße Reagieren auf Zeitereignisse hinausgeht, dass er in großen Zusammenhängen denkend arbeitet und meist auf melancholisch-satirische Weise Position bezieht. Er ist ein Künstler, der mit dem Schalk im Nacken lustvoll mit Wort-, Bild- und Gedankenwitz arbeitet. Charakteristisch dabei ist das Wechselspiel von Ironie und Wehmut, die unausgesprochen in den freien Räumen leise mitschwingt. In der Gewissheit als ganzheitliches Wesen angelegt zu sein, gestaltet sich sein Leben selbst wie ein Gesamtkunstwerk. Der Weg ist das Ziel, und so ist auch sein Lebensraum von dieser Aura erfüllt, ein kleines Universum, in dem alles mit allem zu tun hat, so dass es mitunter schwerfällt, einzelne Arbeiten da herauszulösen und in eine andere Umgebung zu stellen oder isoliert zu betrachten, denn er geht immer auf die Lebensräume ein, in denen er tätig wird, meist baut er darauf auf; seine Eingriffe sind wie die eines Gärtners, der Pflanzen setzt und um ihre Vergänglichkeit weiß.
Nach Abitur, Lehrzeit und Grafikstudium führte ihn die Begegnung mit Werner Stötzer zur Bildhauerei. Mertens frühe Werke zeigen noch den Einfluss dieses von ihm hochgeschätzten Künstlers. Dennoch ist er auch Zeichner und Maler geblieben, in Abständen ebenso Fotograf, Konzeptkünstler und Handwerker. Etwa Mitte der siebziger Jahre wird für ihn, angeregt durch eine Studienreise nach Mittelasien, die Farbe ein wichtiges Ausdrucksmittel, er wendet sie übergreifend, vor allem auch für plastische Arbeiten und Skulpturen an. Hier jedoch weniger mit dekorativen Absichten als vielmehr im Sinne einer schützenden oder beengenden bunten Haut oder Verkrustung. Ende der siebziger Jahre bestimmt zunehmend "das prozesshafte Verständnis der Arbeit als Bewegung ohne Anfang und Ende" das Schaffen von Steffen Mertens. Malerei, Zeichnung, Skulptur sind danach keine getrennten Medien mehr. Bei einem Arbeitsaufenthalt (Bildhauer-Symposium 1979) in Polen verwirklichte er mit einer größeren Arbeit den ersten Schritt zur Idee einer endlosen Plastik als einem fortlaufenden Prozess des Werdens und Vergehens. Zwei Jahre später war es ihm möglich, diese konzeptionelle Arbeitsmethode bei einem Arbeitsaufenthalt in Bulgarien weiter auszubauen. Im Einführungstext "Wandertage in der Mark" beschreibt Steffen Mertens das künstlerisches Vorgehen. In das Werk integrierte er alle Spuren, die das bearbeitete Material hinterlassen hatte, eingeschlossen waren eigene Dreharbeiten mit einer Schmalfilmkamera, die einerseits die Arbeit dokumentierten und gleichzeitig Teil des prozesshaften Herangehens an die Arbeit waren.
Die Wandlung der Dinge geht weiter - er stellt seine Kunstwerke in die Landschaft und lässt sie von der Natur vereinnahmen. Das sozial ambitionierte Projekt des Narrenzuges, eine endlose Reihung und Verflechtung von figuralen Objekten, zum Beispiel in der Weite einer Tagebaulandschaft setzt diesen Gedanken fort.
Von subversivem Witz ist ein anderes, fast monochrom meditatives Projekt, das aus Entsorgungsnot geboren, sich in den Räumen der Druckzone Cottbus sehr dekorativ entfalten konnte. In ART DECODE verarbeitet Steffen Mertens Zeitungen, vor allem Werbeblätter und Zeitschriften zu einem Brei, den er zu Bildtafeln formt und zum Inhalt seiner selbst erhebt.
In seinem bislang letzten Projekt, einer Folge von Bildern, unter dem Titel "Global Loser" arbeitet er mit Adaptionen von Zeitschriftenfotos, Brueghel-Zeichnungen, Zeitungsbreiobjekten und Federzeichnungen. Die Utopie von einer gerechten Welt, seit Jahrhunderten nicht nur erträumt und deshalb auch gesäumt mit ungezählten Opfern, sitzt bei Steffen Mertens neben der Leichtigkeit, der Wehmut, dem Sarkasmus und der feinen Ironie immer mit am Tisch.

Barbara Martin. In: Katalog "Über Leben in Bildern - Steffen Mertens", Cottbus 2003
Unterwegs auf dem Narrenschiff
Zur Ausstellung von Steffen Mertens im Cottbuser Heron-Buchhaus

Die rund 40 Arbeiten - in den vergangenen sechs Jahren entstanden - weisen Steffen Mertens (63) als einen Künstler aus, dessen Werk sich als eines der stärksten im Brandenburgischen Kunstraum behaupten kann. Diese Bilder und Objekte sind geronnene Philosophie, das heißt: Weltsicht und Zeitschau, Schönheit und Geheimnis. Der ästhetischen Gestaltungskraft von Steffen Mertens liegt eine logische Sehweise und Definition des menschlichen Kosmos zugrunde: Das Narrenschiff. Jene Moralsatire Sebastian Brants von 1494 fasste bekanntlich die ganze Menschheit als Summe verschiedener Narren ins poetische Wortbild. Wer sich der intellektuellen Mühe unterzieht, auf diesem Meer seine Entdeckungen zu machen, liegt immer richtig. "What a wonderful world" (chinesische Tusche und Applikation auf Chinapapier, auf Leinwand, 2006) heißt ein Tafelbild. Gelb und hellblau versöhnen die zarten Blüten mit dem Tag, Kritzel, Zeichen, Menschen im Gewusel; und ganz unten jene, die den andern den Hintern lecken, Arschkriecher im Eulenspiegelgewand. So kommt in dieser wunderschönen Welt zusammen, was wohl immer schon zusammen gehört.
Heron-Chef Roland Quos erinnerte in seiner Begrüßung an des Künstlers Selbstbekenntnis zum 60sten: "Wovon leben im Winter? Ein paar harte Nüsse wird es schon noch zu knacken geben." Und indes Lu Schulz mit dem Saxophon über die Tonleiter schwebt, bleibt Mertens ein tiefblickender Kritiker seiner Zeit. Propagandistische Attitüden fehlen hier freilich. Das sind geistreiche Realsatire, heiter-elegische Skepsis und ständiger Wechsel der Spielräume. Vier Bilder des Jahres 2005 dokumentieren dies gleich im Entree: "DIE ZEIT im Bild" (Grafit und Acrylfarbe auf Leinwand).
Das politische Reformgeschrei und sein Reflex in den Gazetten mit wenigen Sinn- und Sprachbildern vorgeführt: "Wo bleiben die kleinen Leute – wer wen – Früchte der Hauruck-Politik". Schließlich im grafischen Coca-Cola-Look: "Enjoy Capitalism". Keine billige Agitpropkunst, sondern vielschichtige Ästhetik des Widerstands.
Es bedarf keiner großen Begabung, um die apokalyptischen Reiter, die zweifelhaften "Freuden des Kapitalismus" im 21. Jahrhundert wahrzunehmen. In Mertens Bildern zu lesen, bedeutet jedoch mehr. Es ist wie auf dem "Heuwagen" von Hieronymus Bosch. Überall Allegorien, Wunderland, Dämonen, auch paar abseitige Hoffnungslichter, Zeitsprünge, Erinnerungen an die Renaissance, Buchstabieren, des Wortes MORAL, damit jeder es kennt. Aber über alle Bildsignale hinweg bleibt auch diesem Künstler eines klar: die Moral ist ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und nicht umgekehrt!
Dann die sanfte Seite von Steffen M., die zarten Tuschbilder zu Rilkes Herbsttagegedicht in Rostrot und Grün ... "wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben ..." Oder die mittlerweile patentverdächtigen Holzbücher! Hier arbeitet sich der Bildhauer sein literarisches Liebesverhältnis vom Leib. Altchinesische Texte, Weisheiten auf hölzernen Buchseiten, Goldschnitt über dem Holzwurmbiotop, geschnitzt, geschlichtet, mit Tusche und Bienenwachs veredelt, biblioman vereinnahmt. Nein, das sind keine Placebo-Bücher, das sind Talismane der Poesie. Zuweilen mit jahrtausendealten Worten beschrieben, einfach und leicht und von einer bezwingenden Melancholie. Auf einem ist zu lesen: Was dort wie Schnee / nach einem Sturm den Garten deckt / sind nicht die Blüten / es ist mein eigenes Ich / das langsam sich zur Erde senkte ...

Klaus Trende. In: Lausitzer Rundschau, 6. Oktober 2006
Arkadien - oder die Suche nach der Landschaft mit menschlichem Antlitz

Kinder weinen.
Narren warten.
Dumme wissen,
Weise gehen in den Garten.

Joachim Ringelnatz

Ich fahre zu Steffen Mertens. Von der Hauptstraße biege ich ab, erst ein Mal, dann ein weiteres Mal. Hier, in einer kleinen Nebenstraße, am Ende eines kleinen Dorfes, ist es. Die Einfahrt ist schmal. Hinter den Häusern öffnet sich der Garten.
Ein verzauberter, ein bezaubernder Ort. Wieder erfasst mich dieses freudige Staunen. In der Luft schwingt gelassene Heiterkeit. Was ist Natur, was ist gewollt? Alles scheint in Wachstum begriffen. Wie knospende Gewächse recken sich schmale Skulpturen in den Himmel. In jedem Winkel gibt es etwas zu entdecken. Haus und Atelier Bestandteil des Reigens. Alles ist ineinander verwoben. Die vielgestaltigen Gesellen von draußen haben drinnen Geschwister aus den unterschiedlichsten, teils sehr fragilen Materialien. Es ist ein närrisches Treiben. Überall sind Spuren zu sehen, überall Arbeit, doch nirgends sieht sie bemüht aus oder gequält. Alles ist von seltener Leichtigkeit. Der Ort ist voller Überraschungen. Nichts ist endgültig fertig, alles bleibt in Bewegung. Ich ahne, schon wenige Wochen später können Gruppen von Skulpturen neu herangewachsen sein.
Steffen Mertens arbeitet wie der Garten, in dem er lebt, wie ein Teil der ihn umgebenden Natur: Überfließend und ständig Neues hervorbringend. Manchmal, so sagt er, sehe er sich selber zu beim Tun, staunend darüber, was da alles ans Licht will durch seine Hände. In dieser Region gibt es wohl kein weiteres künstlerisches Werk, das so eine überbordende Fülle, so eine Gedanken- und Formenvielfalt und so einen Einfallsreichtum vorzuweisen hat.
So auch in den Zeichnungen. Seine hier zu sehenden arkadischen Landschaften sind ein winziger Ausschnitt seines Gesamtschaffens , doch ich merke beim Durchsehen eine Besonderheit. Es fehlt der sonst bei Mertens oft vorhandene, teilweise beißende Sarkasmus. Hier muss etwas Anderes am Wirken sein. Zunächst sieht es aus wie reine Experimentierfreude. Es beginnt bei den Zeichengründen. Die Papiere sind geschöpft oder übereinandergeschichtet, viele Male getönt, gebeizt, übermalt oder lackiert. Bis aus dem Material heraus eine Grundstruktur entsteht, die ihn zum Zeichnen auffordert. Auf dem Grund entstehen Lineaturen, ordnen sich über oder ein, werden selbst zu Struktur und verschwinden wieder, gehen Formen nach oder schaffen sie. Spielerisch leicht wirken die Gebilde, feine, feinsinnige Liniengespinste weben sich über das Blatt. Mit Tusche werden Verläufe erzielt, die zu weiteren Überzeichnungen einladen. Die fertigen Blätter , auch jene, die sehr leicht und überschaubar daherkommen, haben eine Dichte , die sich dem schnellen Blick verweigert. Oft entdeckt man lange nachdem man meint, alles gesehen zu haben, noch neue Details in einem Bild. Mertens ist ein wunderbarer Zeichner. Schroffes steht neben Zartem, Flächiges neben feinsten Lineaturen. Plötzlich kippt meine Wahrnehmung: Aus der Landschaft blicken mich Augen an, ich sehe ein ganzes Gesicht. Mehrere solcher Gesichtslandschaften entdecke ich, in der Gesamtwirkung harmonisch und doch voller seltsamer Brüche. Ist es der immer wiederkehrende Versuch, der Landschaft eine menschliche Struktur zu geben, eine noch dazu, die diesen Namen auch verdient?

Ich fahre nach Gut Geisendorf. Von der Hauptstraße biege ich ab, erst ein Mal, dann ein weiteres Mal. Hier, in einer kleinen Nebenstraße, am Ende eines kleinen Dorfes, ist es. Hinter dem breiten Tor der Garten mit dem Schloss, hinter dem Garten der Tagebaurand.
Im Haus die Ausstellung.
Die närrisch skurrile Skulpturen-Kompanie, die auf verlorenem Posten die anderen Arbeiten bewacht.
Und ich begreife plötzlich:
Die Gratwanderung. Harmonie am Abgrund.
Der Augen-Blick aus der gebrochenen Idylle.
Das Arkadien des Steffen Mertens. Er hat es gemacht.
Die Frage geht an uns.
Was tun, wenn der Boden unter den Füßen fehlt?
Wie das Gesicht bewahren wenn die Landschaften wechseln?
Wie umgehen mit uns , mit der Natur unserer inneren Landschaften?
Die Antwort der Metropolen heißt Krise.
Nicht zu akzeptieren.
Der nicht warten kann, wagt einen Entwurf.
An den Nebenwegen.
Am Rand: EIN-ORT-IRGENDWO.
Vor der eigenen Haustür.
Im eigenen Garten.

Hans-Georg Wagner. In: Katalog "Steffen Mertens. Arkadien - Malerei, Grafik, Plastik", Gut Geisendorf. Vattenfall Europe Mining AG, Cottbus 2010
Laudatio für Steffen Mertens
zur Eröffnung der Ausstellung "Über Leben In Bildern", am 27. März 2013
im Verwaltungsgebäude der Vattenfall Mining and Generation AG in Cottbus

Lieber Steffen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Über die Kunst von Steffen Mertens zu sprechen ist ein schönes aber auch schwieriges Unterfangen. Denn wie soll man etwas auf den Begriff bringen, was sich notorisch und prinzipiell jeder Festlegung entzieht? Wie kann man etwas beschreiben, das sich weder gattungsmäßig, stilistisch noch technisch in eine Schublade sperren lässt, munter die Grenzen von bildender Kunst, Literatur, Philosophie und Zeitkritik überwindet und dabei so behänd und vertrackt auf der Klaviatur unserer Gewissheiten und Emotionen zu spielen versteht, dass einem zuweilen das voreilige Lachen im Halse stecken bleibt, mitunter aber auch da, wo Ernst und Andacht geboten scheinen, sich plötzlich - angesichts einer gerade noch im Bilderdickicht übersehenen Kleinigkeit - ein Gefühl heiterer Freude regt?

Jede bloße Aufzählung nach dem Schema: Steffen Mertens ist Bildhauer, Maler, Grafiker, Raumkünstler, Bauplastiker, Flaneur und Poet; oder: Mertens arbeitet mit Stein, Ton, Holz, Metall, Papier, Farben, Worten, Geräuschen und sonstigen Fundstücken der unterschiedlichsten Art; oder: er malt, zeichnet, tuscht, radiert und collagiert, schlägt ab, baut auf und modelliert, schleift, sägt und montiert, zerreißt, weicht ein und knetet um, konstruiert und dekonstruiert, dichtet, montiert und arrangiert; und nochmals oder:
er betreibt das alles im Atelier, im Garten, in Galerien, Kirchen, auf Bühnen und Häuserwänden sowie in Landschaft, urbanem Raum und unterwegs, wenn es sich anbietet - alle derartigen Auflistungen also liefern zwar wichtige Anhaltspunkte und Koordinaten, bleiben aber dennoch unbefriedigend, weil sich mit diesem Netz aus beruflichen Klassifikationen, Tätigkeitsbeschreibungen und Verortungen das Wesentliche dieser Kunst meines Erachtens nicht einfangen lässt.

Nehmen wir also noch einmal Anlauf, um es auf eine ganz unprätentiöse, einfache Weise zu versuchen, vielleicht so, als wöllte man Mertens' Kunst einem Kind erklären, das noch für Wunder und Märchen empfänglich ist. Die Aufmerksamkeit dieses Kindes würde ich zunächst auf das Blatt Landschaft mit Karawane (2011) lenken, eine Tuschzeichnung mit Blattmetall auf farbigem, handgeschöpftem Papier, gemacht wie in 1001er Nacht. Und während es, also das Kind, schaut, eintaucht in dieses wolkige Blau und wie durch zarte Nebel hindurch immer neue Einzelheiten entdeckt, würde ich ihm dazu noch Folgendes sagen: Steffen Mertens hat etwas von einem guten Zauberer an sich. Er geht mit offenen Augen träumend und sinnend durch die Welt und wo er die Dinge berührt, und seien sie noch so schlicht, verwandeln sie sich und werden schön, bedeutsam und rätselhaft. Er hat Augen und Ohren wie alle Menschen, doch er weiß damit Erstaunliches anzufangen. Wo die meisten nur sehen, was sie zu sehen gewohnt sind, vermag er unendlich viel mehr zu erkennen - nämlich die Fülle der Formen und Möglichkeiten, die noch verborgen in den Gegenständen schlummern, oder auch eine bereits offenbare Schönheit, die von vielen missachtet, nur ans Licht gehoben zu werden braucht. Und wo andere bloß Schweigen vermuten und achtlos lärmend die Stille vertreiben, lauscht er den scheinbar stummen Gegenständen die allerlebendigsten Geschichten ab. Sollte mich das Kind dann fragen, wie er das denn mache, dann würde ich ihm sagen, dass ich glaube, dieser Steffen Mertens habe sich etwas bewahrt, was wir am Anfang vielleicht alle einmal hatten: eine unverstellte Offenheit der Wahrnehmung und eine spielerische Lust am Gestalten, die den meisten leider irgendwann, wenn sie sich erst die Ansichten ihrer Umwelt zu eigen gemacht haben, abhandenkommt. Und weil diese Vorstellung für ein Kind womöglich schon nicht mehr nachvollziehbar wäre, würde ich ihm einfach noch von einem Sessel in Mertens Atelier erzählen, auf dessen hellem Bezug jemand ein paar Flecken hinterlassen hatte. Anstatt diese nun, wie es sich doch gehören würde, im Dienste der Reinlichkeit zu tilgen, formte der Künstler daraus mit einigen gekonnten Zugaben winzige Wesen, die nun die Polsteroberfläche besiedeln. Diese Geschichte scheint mir durchaus symptomatisch zu sein.

Mit anderen Worten: Im Grunde genommen ist der Begriff des Künstlers für Steffen Mertens ein viel zu enges Korsett. Ein passenderer müsste erst noch gefunden werden. Man könnte es mit Weltendeuter, Bilderphilosoph, Formenpoet, Geheimnisschöpfer, Schönheitsentberger, Erinnerungsbewahrer oder auch mit Fool on the hill versuchen, von dem die göttlichen Beatles sangen: "(...) aber der Narr auf dem Hügel sieht die Sonne untergehen, und seine Augen sehen, wie die Welt sich dreht." Jedenfalls sollte die Bezeichnung zum Ausdruck bringen, dass sich da einer ein Maß an kreativer Freiheit erarbeitet und bewahrt hat, dass in der zeitgenössischen Kunst seinesgleichen sucht. Zu dieser Freiheit gehört es auch, ohne Rücksicht auf die Erwartungen der Öffentlichkeit den eigenen Intentionen zu folgen. Dort, wo manch anderer schon längst zum Sklaven seines Images geworden ist und es peinlich vermeidet, vom schmalen Pfad des mühsam als Marke etablierten Personalstils abzuweichen, lässt Mertens seiner Eingebung erst so recht freien Lauf. Die Lust querbeet zu harken, so hat er es auf den Punkt gebracht, ist bei ihm stärker als das Verlangen, eine unvergleichliche Pflanze zu ziehen. Das einzige Gebot, dem er verpflichtet zu sein scheint, ist, für den gewünschten Gestaltungszweck das richtige Mittel und die passende Form zu finden, oder anders herum: aus der vorgefundenen Form und dem sich darbietenden Mittel einen angemessenen Gestaltungszweck abzuleiten. Ansonsten ist fast alles erlaubt, was wohlgemerkt nichts mit Beliebigkeit zu tun hat, sondern mit Souveränität.

Das bisher Gesagte heißt nun aber nicht, dass Steffen Mertens einer wäre, der seine Kunst losgelöst von allen Bezügen und Traditionen schaffen würde. Ganz im Gegenteil: traditionell ist seine Kunst insofern, als sie einen intensiven, Zeit und Raum überwindenden Dialog mit der Kunst- und Kulturgeschichte führt. Und gegenwartsbezogen ist sie, weil sie sich in vielen ihrer Äußerungen als zutiefst politisch, also mitmenschlich, Anteil nehmend und gesellschaftskritisch erweist. Beide Eigenschaften lassen sich in der hiesigen Ausstellung bestens beobachten. Doch Vorsicht! Zwar findet sich sogar ein metallisch kostbar glänzender Mann mit Goldhelm (2011) und eine an mittelalterliche Vorbilder gemahnende Madonna auf dem Löwen (2007), doch sollte man bei aller kunsthistorisch geschulten Wiedererkennungsfreude den rechterhand nach oben gereckten Mittelfinger Mariens nicht übersehen. Der liebe Gott wohnt auch hier wie immer im Detail.

Ein weites Feld kunst- und kulturhistorischer Anspielungen eröffnet das in mehreren Bildern entfaltete Venedig-Motiv (2010/11). Es weist Mertens überdies als einen Reisenden aus, der von Zeit zu Zeit sein kreatives Refugium in einem Dorf nahe Cottbus verlässt, um sich die landschaftlichen, künstlerischen und sonstigen Reize dieser Welt leibhaftig und ad oculos zu erschließen. Die Darstellungen der italienischen Lagunenstadt erkunden zum einen das Verhältnis von Mensch und Raum, beschreiben Architektur als steinernes, vom Zahn der Zeit angenagtes, im Aufstreben schon wieder versinkendes Geschichtsmonument und zitieren dabei mit dem Typus der venezianischen Vedutenmalerei eine Bildtradition, die wir im 18. Jahrhundert vor allem mit dem Namen Canaletto verbinden. Doch Mertens sieht, hört und zeigt mehr als ein Klischee von Gondel, San Marco und "O sole mio": die Wände haben Gesichter, es zischelt und wispert allerorten. Vogelschnabelartige Masken und huschende Hände gemahnen an Karneval und Commedia dell'arte; das Morbide und das Lebendig-Sinnliche, das Ehrwürdig-Alte und das Massenkulturell-Touristische vereinen sich unter seinen Händen zu einem Reigen schillernder Assoziationen.

Kunsthistorisch voraussetzungsreich sind auch die Porträts und Landschaften des Künstlers. Mertens weiß um dieses Erbe und versteht es doch, ihm nicht zu erliegen, sondern es aufzuheben und in seine Bildersprache zu transponieren. Entgrenzung wäre auch hier ein geeigneter Arbeitsbegriff, die Übergänge sind fließend: Gesichter werden wie Landschaften gedeutet und Landschaften tragen physiognomische Züge. Das Antlitz des Menschen wird dabei auf eine zuweilen fast schmerzhaft anmutende Weise durchforscht, demaskiert, freigelegt, durchleuchtet und transparent gemacht, aber niemals bloßgestellt - das Gesicht hinter dem Gesicht soll zum Vorschein kommen, das Prekäre, Verletzliche, mithin Menschliche der in Haut und Fleisch eingeschriebenen Identität erfahrbar werden. Hier greifen inhaltliches Wollen und handgreifliches Machen direkt ineinander: auch das Papier wird traktiert, angeschliffen, perforiert, wieder geleimt und hinterklebt, so dass sich Schichtungen bilden, Sedimente und Werkspuren, die seelische Befindlichkeiten in eine geradezu körperhafte Form übertragen.

Betrachtet man die mit Tusche und Kreide auf Leinwand ausgeführte Landschaft Welzow Süd (2013) wird zudem deutlich, dass Mertens kunsthistorische Wahlverwandtschaften weit über den deutschen und europäischen Horizont hinausreichen. Man geht nicht fehl, wenn man in dem sanft wogenden und fließenden Linienspiel dieser Tagebau-Impression Anklänge an japanische Farbholzschnitte oder ähnliches wahrzunehmen meint. Die Affinität zum asiatischen Kulturraum betrifft nicht nur die Empfänglichkeit für edle Papiere und das Interesse an keramischen Techniken, sondern beruht auch auf geteilten menschlichen und ästhetischen Werten, namentlich aber auf einer Neigung zur zeichenhaften Verknappung, zum Kontemplativen und zur bildnerischen Meditation sowie auf der Fähigkeit, inmitten einer chaotischen Welt Gleichmut, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. So nimmt es nicht wunder, dass Mertens mit seiner Kunst auch während einer China-Reise auf warme Resonanz gestoßen ist und sich eine 40-köpfige Abordnung chinesischer Gäste bereits mit großem Interesse im Lausitzer Künstlerdomizil umgesehen hat.

Verwiesen sei auch auf die Durchdringung von literarischer und bildkünstlerischer Poesie. Kann man etliche Arbeiten für sich genommen schon als Farbgedichte oder lyrische Texturen bezeichnen, so gibt es darüber hinaus auch einen ganz expliziten Wechselbezug zwischen Bild und Wort. Man achte zum einen auf die hintersinnigen Titel vieler Arbeiten, die den Bildgehalt um überraschende Pointen bereichern können oder zuweilen einfach nur fröhlichen Schabernack mit dem Betrachter treiben. Zum anderen fließt Literarisches und Schriftliches auch direkt in den Schaffensprozess ein, etwa wenn Mertens Ernst Jandls Gedichte in Bilder übersetzt oder Texte von Tanja Dückers auf ein Fundstücke (2008/13) geheißenes Werk appliziert.

In der Werkgruppe Totentanz vereinen sich kunstgeschichtliche, literarische und gesellschaftliche Aspekte. Die moribunde Thematik erfreute sich vor allem im Spätmittelalter großer Beliebtheit und wurde auf Kirchen- und Friedhofsmauern dargestellt oder als Buchgrafik gestaltet, mit Texten kommentiert und in Tanzspielen aufgeführt. Für Mertens war es vor allem der berühmte Baseler Totentanz (um 1440), der ihn zu einer freien Adaption inspirierte. Doch führt seine Arbeit auch ein Zwiegespräch mit dem Werk von HAP Grieshaber, einem stilprägenden Grafiker der Moderne, der sich schon Mitte der 1960er Jahre in einem 40 Farbholzschnitte umfassenden Zyklus mit diesem Gegenstand auseinandergesetzt hat. Sieht man von den christlich-theologischen Implikationen des Originals ab, haben die drei Auslegungen im Grunde eine gemeinsame Botschaft: vor dem Tod sind alle Menschen gleich. Das bedenke ein jeder, der sich Zeit seines Lebens an Rang und Titel klammert oder Macht, Herrschaft und Besitz benötigt, um seinem hinfälligen Ego Bedeutung zu verleihen.

Noch engagierter, konkreter und auf eine produktive Art zorniger wirkt die Bilderfolge In der Staubzone (2005). Auch hier geht es um gesellschaftlich hergestellte Ungleichheit, jedoch nicht auf dem Umweg historischer Zitate und Analogien, sondern in direkter Konfrontation mit jenen Medienbildern, die uns soeben noch aufs höchste erregten und morgen schon wieder vergessen sind. Entsprechend hyperrealistisch ist der visuelle Vortrag und unmissverständlich die Diagnose: das globale Wohlstandsgefälle reicht heutzutage vom Reichtum des kapitalistischen Jet Sets über die Ausgeschlossenen am Rande der Konsumgesellschaft bis hinab zu jenen Elenden der Dritten Welt, die auf der Flucht vor Hunger, Armut und Krieg ihre ganze Habe auf dem Rücken tragen. Doch der Sturmwind einer sozial-ökologischen Katastrophe wird letzten Endes keine Landes- und Klassengrenzen kennen, auch wenn das Unheil zunächst nur auf den Seiten der Sonntagszeitung aufscheint oder via Satellitenprogramm und Internet aus der Ferne ins Wohnzimmer flimmert.

In den Papierobjekten Informationsbrei und Unbeschriebenes Blatt kommt die massenmediale Überproduktion der Meinungs- und Bewusstseinsindustrie dann plötzlich zum Still-Stand. Der sprichwörtliche Informationsbrei verwandelt sich, geschreddert und eingedickt, zum ganz realen Papierbrei und dieser erstarrt zu einem Bildobjekt von fast zen-buddhistisch anmutender meditativer Intensität. Am Ende ist Schweigen.

In höchster Verdichtung führt diese Werkgruppe vor Augen, wie sich in Mertens Universum Erfindungsreichtum, Poesie und intellektuelle Klarheit mit Humor und Einsicht ins Abgründige und Fatale verschwistern. Die Stimmung ist, um nochmals einen Bildtitel zu zitieren, "melancholisch, aber nicht zu sehr". Es darf gelacht werden und dennoch liegt ein steter Schatten über allem.

Steffen Mertens Kunst handelt in lebensvollen Bildern über das Leben. Sie ist eine Überlebenskunst.

Ulf Jacob, Berlin-Pankow, 26. März 2013
Bodenlose Bilder
Zur Ausstellung „Steffen Mertens – Zeichner der Besten aller Welten“
(Brandenburgisches Landesmuseum für Moderne Kunst, Dieselkraftwerk Cottbus, 24.8.2018)

Sowohl in ihren Mitteln und Praktiken als auch in der Wahl ihrer Bildgegenstände ist die Kunst von Steffen Mertens auf eine wunderbare, immer wieder überraschende Weise unbegrenzt und frei. Selbst der Begriff der Kunst erweist sich für sie als ein viel zu eng geschneidertes Gewand (und wird im Weiteren nur der Konvention halber beibehalten). Genauso gut könnte auch von visueller Philosophie, ästhetischer Gesellschaftskritik, therapeutischer Poesie oder einfach nur von bildnerischer Lebensbewältigung die Rede sein.

Und doch lässt sich bei aller Offenheit in der Fülle und Vielfalt dieses schöpferischen Universums ein gemeinsamer Wesenszug ausmachen. Auffällig ist zum einen die fortwährende Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Transformation. Umwandlungen, Umformungen, Umgestaltungen, aber auch die Übertragung von materialer Erfindung in gedankliche Erkenntnis und umgekehrt bilden eine paradoxe Konstante in Mertens Schaffen. Dauerhaft geht es um Veränderung, darum, dass nichts so bleibt wie es ist, alles vergeht, sich auflöst und neu ordnet, wobei im Neuen oftmals ein beharrendes, noch nicht abgegoltenes Altes fortlebt.

Eng verbunden mit dieser transformativen Tendenz springt zum anderen das Motiv der Unsicherheit ins Auge. Nichts ist so, wie es scheint, man wird getäuscht und täuscht sich, unter trügerischen Oberflächen verbergen sich Abgründe, zumindest aber Doppelbödiges. „Schönheit beim ersten Blick, Grauen bei näherer Betrachtung“ 1, wie es Steffen Mertens selbst auf den Punkt bringt.

Zu den frühesten Erinnerungen des Künstlers zählen die Ruinen des Zweiten Weltkrieges 2. Dem Kind, das keine unversehrten Städte kannte, musste die Allgegenwart des Verfalls wie selbstverständlich erscheinen. Skelettierte Häuser, die keine Heimstatt mehr waren, das Kriegsmal als Spielplatz – Schönheit und Grauen gingen schon damals Hand in Hand.

Die Skepsis gegenüber jeglicher Gewissheit von Ordnung und Sinn, das Interesse am Instabilen und das wache Bewusstsein für die Maskeraden des Daseins kommen in Mertens Zeichnungen besonders eindringlich zur Geltung. Der zeichnerische Akt ist selbst ein fortgesetzter Transformationsprozess mit unsicherem Ausgang. Die Inhalte entwickeln sich beim Zeichnen aus der Form und wirken dann ihrerseits auf die weitere Formenfindung zurück. Liniengespinste wecken Assoziationen, Assoziationen verdichten sich zu Gedanken und diese Gedanken provozieren neue zeichnerische Einfälle. Dabei entfaltet der „verspinnerte Strich“ 3, wie Mertens das nennt, eine ganz eigene Magie, die sich sowohl im großen Rhythmus der Bilder als auch in deren grafischen Details bis hin zur Modulation der Bleistiftspur oder dem fein nuancierten Valeur der Tuschen offenbart.

Dem Zauber dieser Zeichnungen wohnt überdies eine Musikalität inne, wie man sie vergleichsweise etwa in der modernenTonkunst eines György Ligeti (1923-2006) finden kann. Schon in den frühen 1950er Jahren träumte der in Ungarn gebürtige Komponist von einer (ich zitiere) „Musik, in der die Gestalten – viele wimmelnde kleine Gestalten – als Einzelheiten nicht mehr erkennbar, sondern ineinander verflochten, miteinander verwoben wären, in der die Farben changieren und irisieren würden.“ 4 Ligeti nannte dieses Verfahren „Mikropolyphonie“ und sah darin eine Affinität zum Werk seines Lieblingsmalers Hieronymus Bosch (um 1450-1516), vor allem aber zu dessen „Garten der Lüste“ (um 1500, Madrid, Museo del Prado).

In zeichnerischen Arbeiten wie „Quo vadis“ (2018) oder „Das Zeitalter des Zorns“ (2018) komponiert Mertens nun seinerseits ein wimmelndes Pandämonium der spätmodernen Gesellschaft. Im Rückgriff auf ein altes Bibelwort spricht er vom „Tohuwabohu“ 5, was ein (heilloses) Durcheinander, Gegenläufigkeit, Ziellosigkeit, aber auch einen Zustand der geistlichen und geistigen Leere meint. Menschenmengen fluten den Bildgrund, Protestbewegungen gegen irgendwen und uniformierte Gewalt, die sich auf irgendwas beruft, eskalieren in einer infernalischen Massenchoreographie, die sensationsgeile Kamera ist immer mit dabei, es wird geschoben und gedrückt, mitgeschwommen, marschiert und rebelliert, Tiere sind auch darunter, das alles und noch viel mehr vermischt und widerspricht sich, wogt hin und her und dreht sich am Ende wie irre im Tanz um das goldene Kalb. Unter apokalyptischem Himmel ein rasender Stillstand aus dem kein Weg herauszuführen scheint. Und man fragt sich betroffen, wozu der ganze Wirbel? Wagt doch einmal jemand den Versuch sich aufzuschwingen, um über dieses blinde Gewühl hinauszukommen, wird er alsbald zurückgerissen ins Profane und Übliche, gegebenenfalls in den Tod. Verantwortlich sind dafür je nach Gusto die allmächtigen Götter, das Schicksal, die Hybris des Einzelnen oder das, was man den Zwang der sozialen Verhältnisse nennt. Auf einem berühmten Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren (um 1525-1569) sirbt Ikarus, der, wie es bei Ovid (23 v.u.Z.-18. u.Z.) heißt, von der „Lust nach dem Himmel verleitet“ 6 wurde, einsam. Die Beine des Ertrinkenden strampeln im Wasser, während der Bauer pflügt, der Hirte hütet, der Angler angelt und ein Schiff unter vom Wind geblähten Segeln übers Meer zieht (um 1556, Brüssel, Königliches Museum). Business as visual, das Leben geht weiter, als wäre nichts geschehen. Rund 400 Jahre später zeigt der neusachliche Maler Franz Radziwill (1895-1983) wie in stockschwarzer, schweigender Nacht ein Flieger aus der Höhe stürzt (1928, Essen, Museum Folkwang). Niemand bemerkt das Drama des Himmelsstürmers. Ganz anders bei Steffen Mertens: Auf der Tuschzeichnung „Ikarus im BILD“ (2005) schart sich ein glotzendes, schwatzendes, nach Unterhaltung lechzendes Publikum um den Gefallenen, Objektive sind auf ihn gerichtet, die letzten Zuckungen werden live übertragen, während Rettungssanitäter dem tragischen Helden – bei welcher Krankenkasse ist er eigentlich versichert? - eine Betriebsamkeit angedeihen lassen, die ins Leere läuft. Inmitten der ruhelosen Öffentlichkeit scheitert letztlich auch er von aller Welt verlassen.

Nebenbei ist damit zudem gesagt, dass Mertens' Bildsprache eine Fülle von medialen, kunsthistorischen, literarischen oder sonstigen kulturgeschichtlichen Bezügen aufzuweisen hat.Sie korrespondiert einerseits über die Wahrnehmung, Reflexion und Handfertigkeit des Künstlers ganz unmittelbar mit der ihn bedrängenden und inspirierenden Wirklichkeit, und speist sich andererseits aus den Erzählungen und Symbolismen des kollektiven Gedächtnisses. Antike Sagen und Christlich-Religiöses kommen dabei ebenso ins Spiel wie die politische Essayistik des indischen Schriftstellers Pankaj Mishra (*1969). 7

Auch die Gegenwart produziert ihre Mythen. Der „Zeichner der Besten aller Welten“ erkennt ihre Macht unter anderem im Glauben an das Geld. Weit mehr als nur ein Wertspeicher und Medium zur Verrechnung unterschiedlichster Leistungen ist es ein brutaler Götze, der unser aller Leben und Beziehungen beherrscht. Geld zu haben, wird im globalisierten Spätkapitalismus mehr denn je zum Zielpunkt allen Strebens (oftmals auch des künstlerischen). Es ist Maßstab und Unterpfand für Status, Anerkennung und Lebenschancen. Wer es hat, wird neidisch bewundert und geschätzt, wer es nicht hat (und sehr viele haben es nicht), herabgesetzt und an den Rand gedrängt. Daran haben weder Bankenkrisen noch Heuschreckenplagen etwas geändert. Steffen Mertens persifliert diesen Geldkult, indem er Grafik und Symbolik der begehrten Scheine in Zeichenkunst übersetzt, wie es im Blatt „Der Zehner“ (2007) geschehen ist. Der Tauschwert de unsicheren Fetischs wandelt sich so in den Gebrauchswert der Kunst – auch eine Art der Transformation. Ähnliches ereignet sich im Objekt „Eine deutsche Bank“ (2018). Zusammengefügt aus Relikten der 2012 geschlossenen Landeszentralbank in Cottbus, könnte man auf ihren prall mit geschredderten D-Mark-Noten gefüllten Kissen immerhin mit Sicherheit sitzen.

Hellsichtig begreift Mertens auch die Digitalisierung – über ihren technischen und ökonomischen Aspekt hinaus – als einen zentralen Mythos des 21. Jahrhunderts, dem ein Heilsversprechen von süßer Verführungskraft innewohnt. Vergleichbar dem Geld, mit dem sie eng verbandelt ist, tendiert sie dahin, alle Lebensbereiche der Menschen von der Kommunikation über Beruf, Haushalt, Freundschaft, Gesundheit, Bildung und Konsum bis hin zur räumlichen Orientierung erst zu infiltrieren und dann nach ihrer Logik umzumodeln. Sie schafft Abhängigkeit von digitalen Infrastrukturen und ermöglicht ein Maß an Kontrolle, das sich die berühmt-berüchtigten Geheimdienste des 20. Jahrhunderts noch nicht einmal vorstellen konnten. Widerstand ist dabei kaum zu befürchten, denn der Zwang tarnt sich als Bedürfnis. In der seligen Erwartung, ins Paradies der digitalen Dienstleistungen einzugehen, legen sich die Nutzerinnen und Nutzer nur allzu gerne selbst die Fesseln an. Gleich einem Anthropologen charakterisiert Steffen Mertens die neue smarte Spezies in seinem gleichnamigen Objekt als „Homo archaikus digitalis“ (2018). Dieser wähnt sich kraft des binären Zahlencodes von 0 und 1 allmächtig und ist doch – so Mertens – in seinem Wesen nicht weniger beschränkt als ein Mensch vor 5.000 Jahren. 8 Genau diese Kombination mutet heikel an.

Doch verstehe man mich bitte nicht falsch. Beschränktheit ist ein Menschenrecht, oder anders gesagt: indem wir unvollkommen und limitiert in unseren Fähigkeiten sind, sind wir Menschen. Zu fürchten ist vielmehr die Vollkommenheit, schon immer ein lockendes Wahngebilde aller totalitären Herrschaftsphantasien. Das Ideal des Perfekten und Vollkommenen, dem wir nie genügen können und das uns doch in immer neuen modischen und technokratischen Variationen nahegebracht wird, lässt uns an uns zweifeln, macht uns gefügig und verführbar, treibt die verängstigte Mittelschicht zur Selbstoptimierung, ist Wasser auf den Mühlen der Lifestyle- und Psycho-Industrie und raubt dem Wissen des Einzelnen im Wettbewerb mit algorithmischen Informationsmaschinen die Relevanz. Dieser Entwertung, Glättung und Nivellierung unserer Eigen- und Einzigartigkeit setzt der „Zeichner der Besten aller Welten“ die unermüdliche Arbeit an der Verbildlichung des Individuellen entgegen. Der unvollkommene Mensch liegt ihm am Herzen. Er nimmt Anteil an dessen Glück wie an dessen Leid, hebt ihn aus der Menge, zeigt ihn mit all seinen Mängeln und Blessuren, vom Leben angenagt, doch voller Würde und schön.

Zerschunden, zerknittert, verwaschen, verwittert, deformiert, wie zerstört und neu zusammengesetzt schauen uns die Köpfe an, in deren Gesichtsruinen – fragend, forschend, ergeben, resigniert – die Augen leuchten und von dem künden, was man altmodisch Seele nennt.

Auch hier ist nichts von Dauer, alles im Wandel, immer im Fluss, wie eine anrührende, auf Aluminiumblech gezeichnete Tusche (2017) zeigt: Walter Jens (1923-2013), der große, von Mertens verehrte Gelehrte, Autor und Rhetoriker, dessen brillanter Geist im Zuge einer Demenz-Erkrankung langsam verdämmerte, verschwindet lächelnd, zerfließt wie eine Wolke, die sich auflöst, wenn die Stunde gekommen ist.

Mertens behandelt die Gesichter wie Landschaften und die Landschaft wie ein Porträt. Beide sind im Antlitz, Zeugen und Zeugnisse von Geschichte und Geschichten, die sich einschreiben, einfurchen, einbrennen in Erde, Stein, Haut und Fleisch. Der Mensch lebt in der Landschaft, die Landschaft lebt im Menschen: Innen- und Außenwelt, Subjekt und Objekt bedingen einander. Insofern scheint mir eine betörende Arbeit wie das farbig auf Aluminium gemalte und getuschte „Hohe Wasser“ (2017/18) zunächst als eine landschaftliche Szenerie lesbar zu sein, aus deren bodenlosen, sumpfig-schwankenden Tiefen uns die Natur selbst entgegenblickt. Zugleich wirkt sie auf mich aber auch wie ein Traumbild oder wie ein Psychogramm, das unterschwellig im komplementären Kontrast zwischen kühlem Blau und glutigem Rot von Zerrissenheit, verborgenen Konflikten und inneren Gegensätzen erzählt.

Melancholie und Humor, Weinen und Lachen liegen im Leben oftmals dicht beieinander. Manchmal vermischen sie sich, was den Spaß verbittert und das Leiden versüßt. Das ist auch beim „Zeichner der Besten aller Welten“ so. Mertens sitzt gelegentlich der Schalk im Nacken. Dsann spielt er verschmitzt mit Bild- und Wortwitz auf der Klaviatur des Heiteren und Komischen von der Ironie über die Satire bis hin zur Karikatur. Darin ist er den Narren und Gauklern verwandt, die in seinem Bilderkosmos einen Stammplatz haben.

Es sind aber, wie es heißt, die Kinder und die Narren, die die Wahrheit sagen.

Ulf Jacob, Berlin, im August 2018


1 Ateliergespräch, Klein Döbbern, 17.7.2018.
2 Ebenda.
3 Ebenda.
4 Zitiert nach Sigmar Hohl (Hrsg.): Der neue Musikführer. Die Welt der klassischen Musik: Oper, Operette, Musical, Ballett, Konzert. Die wichtigsten Komponisten und ihre Werke von A-Z. Mit Namens- und Werkregister, München 1995, S.276ff.
5 Ateliergespräch, Klein Döbbern, 17.7.2018.
6 Ovid: Metamorphosen (Verwandlungen), in: Ders.: Werke in zwei Bänden,
Berlin und Weimar 1982, Bd. 1, S. 191.
7 Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart,
Frankfurt am Main 2017
8 Ateliergespräch, Klein Döbbern, 17.7.2018.
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